Wie Kringerde entstand

Am Anfang stand das Spiel

Robert M. TalmarEs war einmal vor langer Zeit ... etwa zu Beginn der 80er Jahre, da bekam ich ein Spiel geschenkt. Ein Brettspiel, wohlgemerkt, was an sich schon andeutet, wie lange her das ist. Es war das erste Fantasy-Spiel, das ich zu Gesicht bekam, wobei sich der Fantasy-Anteil in Grenzen hielt, aber immerhin. Die Rede ist von „Verlies“, das heute kaum noch jemand kennen dürfte. Als Spieler konnte man wählen, ob man als Zauberer, Held, Fee oder Elfe in das Verlies hinabsteigen wollte. Jede Figur hatte ihre Eigenheiten. Im Verlies selbst mussten Schätze geborgen, Unholde bekämpft und endlose Duelle ausgefochten werden, sofern es einem gelang, den Falltüren und sonstigen Fallen zu entgehen.

Irgendwann tauchte die überraschende Frage in mir auf, wer wohl diese Zauberer, Helden, Elfen und Feen „waren“, die da in dieses Verlies hinabstiegen. Und warum taten sie das? Mit anderen Worten: welche und wessen „reale“ Geschichte spielte ich hier nach? Vielleicht war der Ort der Handlung ja mehr, wichtiger, bedeutender eben, als es der eher einschränkende Begriff „Verlies“ zuließ. In meiner Phantasie wurde daraus „Die Katakomben von Oh‘L“. Namen haben von jeher das Feuer der Phantasie in mir entzündet.

Der mysteriöse Ort Oh'L

Doch wo zum Grabunhold befand sich dieses mysteriöse Oh‘L? Und was war das überhaupt für ein Ort? Es gab nur einen Weg, das herauszufinden. Wer jetzt lacht, hat kein Autorenherz – ich begann, eine erste Karte von vielen weiteren zu zeichnen, und ich begann mittendrin mit einem Punkt, den ich als Oh‘L markierte. Flüsse, Gebirge, Ebenen und Wälder erschienen, und ehe ich mich versah, breitete sich eine mir völlig unbekannte Landkarte vor mir aus. Die nächsten Fragen stellten sich ein. Was lag hinter den Rändern meiner Karte? Und woher kamen überhaupt die Spielfiguren, die plötzlich gar keine Spielfiguren mehr waren, sondern sehr wahrscheinlich Charaktere in einer sich allmählich aus dem Nebel erhebenden Handlung?

Zu den ersten Handlungsfiguren gesellten sich alsbald Hintergründe: Familienangehörige, Freunde, Nachbarn, Landsleute. Und ich entwickelte, anfänglich ohne es zu bemerken, eine immer weiter anwachsende und sich verzweigende Historie. Zunächst der Personen, dann der Landschaften und Orte. Die Frage „was war zuvor passiert?“ führte mich immer tiefer in die Geschehnisse einer mich selbst am meisten erstaunenden mystischen Epoche. Noch hatte ich keinen Anfang einer Geschichte, ja nicht einmal eine Geschichte an sich, sondern Betrachtungen von einzelnen Aspekten einer immr komplexer werdenden Welt. Einer Welt, von der ich noch nicht einmal den Namen kannte.

Ein besonderer Kristall

In diesen Betrachtungen – erste Aufsätze, die ich zu meinem eigenen Vergnügen schrieb – war seltsamerweise immer wieder von einem besonderen Kristall die Rede, über den aber niemand (jedenfalls keine meiner entwickelten Figuren) etwas zu wissen schien. Nichts bis auf das: er war etwa faustgroß, als perfekte Kugel geformt, und er hatte (ziemlich unklare) magische Kräfte. In meinen Notizen tauchte er mal als „Kristall des Königs“ auf, dann wieder als „Kristall der Priester“. Bezeichnungen, die wenig genug besagten, aber mich neugierig machten auf mehr. Was war das nun wieder für ein eigenartiges Ding?

Ich begann, mich ernsthaft für Kristallkugeln zu interessieren. Und stellte fest: nicht nur ich schien von diesen Dingern fasziniert zu sein. Auch andere, vor allem zahlreiche bildende Künstler unterschiedlichster Herkunft, Schulen und Lebzeiten hatten es immer wieder unternommen, geheimnisvolle, manchmal sogar leuchtende Kugeln in ihre Werke mit einzubauen. Nicht immer waren diese Kugeln, die ich für mich unwillkürlich als Kristallkugeln identifizierte, einem Zweck zuzuordnen. Aber immer ging von ihnen die Ahnung von etwas Mächtigem oder zumindest Besonderem aus. Und nicht selten hielten Personen diese Kugeln in ihren Händen, als ob sie etwas damit bewirken wollten. Nur um ein Beispiel zu zeigen, eine moderne Statue aus Boston könnte direkt meinem Roman entlehnt sein: 

Kunstwerke dieser Art finden sich zu allen Zeiten, und ich begann ersthaft zu überlegen, ob wohl mehr dahinter steckte als uns noch im Bewusstsein verblieben war. Ich begann, darüber nachzudenken, weshalb Kinder von Schneekugeln fasziniert sind. Weshalb gab es Reichsäpfel (die offizielle Version überzeugte mich überhaupt nicht, wonach ein Reichsapfel ein Symbol für die Erde sein sollte)? Waren die Reichsäpfel in Wahrheit womöglich das längst vergessene Abbild eines anderen Gegenstands, der gleichwohl mächtig, möglicherweise sogar gefährlich war? Und warum – die Kardinalfrage – warum wurden ausgerechnet Kristallkugeln zur Wahrheitsfindung und Voraussage, also zum Hellsehen, verwendet? Ich meine, abgesehen davon, dass jede dieser Kugeln zweifellos schön ist?

Verlorene Artefakte?

Hinter alledem, so ging meine fabulierende Vermutung mit mir durch, steckte womöglich mehr. Etwas, an das wir uns aber – da es sich vor langer, langer Zeit ereignete – nicht mehr erinnern können. Etwas, das noch heute unser Unbewusstes durchdringt und uns diese Faszination, manchmal aber auch den leisen Schauder erleben lässt, wenn wir eine Kristallkugel sehen oder gar berühren.

War mein „Kristall des Königs“ möglicherweise dieses Artefakt? Was wäre, wenn es dahinter eine längst vergessene Geschichte gäbe, in der eine solche Kristallkugel die ursächliche, eben die entscheidende Rolle spielte?

Die Antwort ist einfach: Dann kannte ich jetzt meine Aufgabe, nämlich diese vergessene Geschichte nachzuempfinden und sie neu zu erzählen. Ich überlegte: Vielleicht gab es einst nicht nur eine Kristallkugel, sondern sogar mehrere? Das erschien mir umso wahrscheinlicher, eben weil unsere heutige Faszination von Kristallkugeln als Effekt noch immer so stark vorhanden ist, dass dafür ein einziger Kristall kaum ausgereicht hätte.

Das alles fühlte sich für mich richtig an, und so schrieb ich es auf:

• Es hat vor tausenden von Jahren mehrere Kristallkugeln von unbeschreiblicher Kraft gegeben.
• Sie waren damals Instrumente einer heute unverstandenen und uns unerklärlichen Macht.
• Ihre fernen Echos bis in unsere heutige Zeit sind die Wahrsagekugeln, Schneekugeln, Reichsäpfel und die vielfältigen Abbildungen und Ausgestaltungen in der Kunst.

Dieser Gedanke gebar die Gilwen und ihre Gegenstücke, die Schwarzen Tränen. Was noch unfertig war, war die „Bühne“, auf der sich das „Schauspiel“ entfalten konnte.

Freiheit und Stimmigkeit

Der Reiz der Fantasy liegt für mich im Element der Freiheit. Lasse ich eine Geschichte in z.B. New York oder an einem sonstigen realen Ort spielen, so bin ich gezwungen, die Örtlichkeiten wirklichkeitsgetreu zu schildern. Heute in Zeiten von Google Earth kann jeder einen jeden geschilderten Hinterhofspurt optisch nachvollziehen. Soll ein Roman dann noch den Anspruch erheben, die Wirklichkeit abzubilden, so kann ich darin nur schwer Dinge behaupten, wenn ein jeder sie leicht auf Stimmigkeit nachprüfen kann. Ich sollte es tunlichst vermeiden eine Romanfigur von Punkt X aus auf eine weite Ebene blicken zu lassen, wenn in Wirklichkeit dort ein Hochhaus oder gar ein Höhenzug den Blick versperrt. Diese Einschränkung habe ich in der Fantasy nicht, ich bin zunächst einmal völlig frei in meinen Settings.

Der Reiz der Fantasy liegt für mich zum anderen aber auch in der Herausforderung, eine ganze Welt in sich stimmig zu gestalten. Und das ist schwerer als man zunächst glauben mag. Wo in jedem anderen Genre die Recherche reichhaltiges Material zutage fördert, das der Autor dann verwenden kann, so ist eine Recherche für Fantasy-Autoren schlechterdings unmöglich. Ich kann die Handlungsorte nicht aufsuchen, ich kann keine Atmosphäre einfangen, ich kann niemanden interviewen, der mir verrät, wie es sich anfühlt, dort zu leben. Alle Fantasy-Autoren müssen sich ihr Material erst selbst generieren, und hier schlägt der Wirklichkeitsanspruch wieder gnadenlos zu. Die einzelnen Elemente müssen jetzt möglichst perfekt zusammenpassen und miteinander harmonieren, sonst verpufft die Wirkung, und die Geschichte wird als unglaubwürdig empfunden.

Weltenbastler

Fantasy-Autoren sind folglich Weltenbastler oder Nebenschöpfer, wie es J.R.R. Tolkien einmal treffend nannte. Plötzlich werden politische oder waffenkundliche Fragen ebenso wichtig wie die, ob eine Ulme überhaupt dort wachsen kann, wo ich sie gerne wachsen sehen würde. Passen Bodenbeschaffenheit und Umgebung dazu? Ist die Gegend zu hoch oder zu niedrig dafür? Passt das Klima? Und was wächst noch dort, wo Ulmen gedeihen? Auf welchem Boden findet das alles statt? Selbst wenn ich aus der Ulme einen frei erfundenen Maegre-Baum mache, sollte ich mehr über ihn wissen als dass er einen Stamm und Äste und womöglich Wurzeln hat.

Sicher werden einige einwenden, das alles sei gar nicht notwendig, um eine spannende Geschichte zu erzählen. Und sie haben Recht. Aber ich persönlich empfinde eine nur dünn oder schablonenhaft entwickelte Welt als unecht, in der ich mich weder als Leser noch als Autor gern bewegen möchte. Ich bekomme dann immer den Eindruck, der Autor habe es nicht der Mühe für Wert befunden, die eigene Welt mehr als nur dürftig zu gestalten.

Ein Gefühl von Echtheit

Doch damit nicht genug. Bei der Ausgestaltung einer Fantasywelt kommt irgendwann auch das Thema Sprachen unweigerlich auf einen zu. Fremde Namen zu erfinden ist eins, aber was bedeuten sie? Wer spricht diese Sprache? Was macht die Kultur aus, in der die Sprache gesprochen wird? Wie denken die Sprecher? Was ist ihnen wichtig? Wer es wirklich ernst nimmt mit der Weltenbastlerei, auf den rollen spätestens jetzt ganze Lawinen an Vorarbeit zu, ehe es überhaupt ans eigentliche Schreiben geht. Ich bin schon oft gefragt worden, weshalb meine Vorarbeiten so viel Zeit verschlungen haben. Einer der Gründe liegt sicher hierin begründet: je echter sich die Welt „anfühlen“ soll, desto mehr Dinge sind zu bedenken. Je dichter das Weltengeflecht, desto sicherer können sich die Figuren darin bewegen. Und diese Dichte zu erzeugen benötigt neben sehr viel Zeit auch einiges an Selbstdisziplin.

Das Entwickeln der romantischen Handlung ist (zumindest bei mir) ein erst relativ spät einsetzender Prozess und vollzieht sich ab einem gewissen Punkt fast wie von selbst aus der Vorgabe von Orten, Landschaften und dort lebenden Gesellschaften.

Die Historie, die Vergangenheit von Völkern ebenso wie die von einzelnen Personen will vor diesem Hintergrund ermittelt werden. Und hier, in den Motiven der Handelnden von einst und Jetzt, entwickelt sich dann das Kräfte- und Wechselspiel von Ursache und Wirkung.

Wo beginnt eine Geschichte?

Hier möchte ich noch ein Wort zu meiner fast verrückt zu nennenden Arbeitsweise einstreuen. Ich notierte meine Eingebungen wie sie kamen, ohne die darin enthaltenen Hinweise und Behauptungen in Frage zu stellen. Stand es auf dem Papier, dann war es „wahr“. Ich hatte dann eben herauszufinden, weshalb jenes geschah und anderes scheiterte. In der gesamten Entwicklungsarbeit habe ich diesen Grundsatz stets befolgt. Ich bin immer von vorn nach hinten vorgegangen, habe rückwärtsblickend die Handlungsgegenwart gleichsam gefragt, was vorher war. Und davor. Und wieder davor.

Ganz so, wie es Clive Barker in „Gyre“ geschrieben hat:

„Nichts beginnt jemals. Es gibt keinen ersten Augenblick; kein einzelnes Wort oder einen Ort, von dem diese oder eine andere Geschichte ihren Ausgang nimmt. Man kann die Fäden stets zu einer früheren Geschichte zurückverfolgen, und zu den Geschichten, welcher dieser vorausgehen ...“

(Clive Barker, „Gyre“)

Wo und wann beginnt also eine Geschichte? Im Grunde nie und doch jederzeit.

Hier zu sammeln, zu werten und zu gewichten ist unerlässlich.

Aber am Ende lohnt sich die Mühe. Es entsteht eine in sich in einem hohen Maße stimmige Welt, in der die Figuren glaubhaft agieren können.

Die Welt der Gilwenzeit heißt Kringerde (wobei man „kring“ ganz gut mit „gekrümmt“ wiedergeben kann).

Die Geschichte der Gilwen, jener mächtigen Artefakte der Vorzeit, kunstvoll einzufangen und sie spannend und vor allem unterhaltsam zu präsentieren, das war meine Motivation in den vergangenen Jahren. Jahre, die mich unter anderem auch dieses lehrten – New York zum Leben zu erwecken ist vermutlich leichter. Aber es macht auch bedeutend weniger Spass, da bin ich mir sicher.

Damit sind wir am Ende dieses kleinen Werkstattberichts angekommen und stehen zugleich vor dem eigentlichen Anfang:

„Acht geheimnisvolle Gilwen erschufen einst die Wahren Meister der Gidwargim – Kristallkugeln von unfassbarer Schönheit und zugleich erfüllt von unbegreiflicher Macht. Doch der Tyrann Lukather ahmte sie nach ... und brachte damit die Schwarzen Tränen und namenloses Grauen nach Kringerde ...“