Gilwenkunde

Entstehungszeit

Als um das Jahr 430 der Endyaluëne die Wahren Meister des Volkes der Gidwargim (Einzahl: Gidwargum) begannen, Gilwen zu schmieden, so taten sie dies nicht etwa in der Absicht, Waffen zu erschaffen. Vielmehr war es ihr hohes Ziel, Werkzeuge zu ersinnen, deren Nutzen in der weiteren Gestaltung und dem Ausbau ihrer unterirdischen Wohnstätten liegen sollte. Sie selbst bezeichneten die Gilwen als Margathankhim (Einzahl: Margathankhum), zu deutsch etwa „Werkzeuge von Macht“. Der Name Gilwe wurde ihnen erst später von den Féar gegeben, als diese erstmals eines Margathankhums ansichtig wurden. Gilwe wiederum bedeutet „Schönheit aus Licht“.

Acht Margathankhim entstanden so über einen Zeitraum von rund 290 Jahren hinweg, und nur fünf Wahre Meister gab es, die sich auf diese Kunst verstanden. Ihre Namen gingen ein in Sagen und Legenden:

• Barlin Steinfeger
• Zirkóin Eisenkreischer
• Olúin Hartenschlag
• Merivóin Glutbläser
• Fárin Goldhand

Mit Fárins Tod im Jahr 822 starb die Margathankhumschmiedekunst gleichsam aus (zumindest unter den Gidwargim); denn Lukather der Grausame ging anschließend daran, die Dunklen Gilwen, auch Schwarze Tränen genannt, zu fertigen.

Herstellung

Die Gilwen waren allesamt von gleicher Größe und von gleichem Aussehen. Ihr Material bestand aus einem künstlichen Kristall, der härter war als Adamant. Sie waren unzerstörbar, zumindest gab es keine Waffe, keine Säure, keine äußere Kraft, die sie zu zerstören vermocht hätte. Dennoch wurden einige von ihnen später in Mitleidenschaft gezogen; und es sollte sich zeigen, dass die Kräfte der Gilwen stark genug waren, um sich untereinander sehr wohl Schaden zufügen zu können. Jedes Margathankhum war so groß wie eine Männerfaust. Als perfekte Kugeln geformt, schimmerten sie klar und durchscheinend, solange sie ruhten. Erst wenn sie benutzt wurden, nahmen sie ihre unverwechselbare Färbung an und leuchteten strahlend.

Gilwen oder Margathankhim zu schmieden war zweifellos teuer. Ein ungeheurer Preis in Form von Gold war für jede einzelne Gilwe zu entrichten – nicht in Form des Kaufes von weiteren Materialien (obwohl es derlei bedurfte), sondern weil das Gold selbst beim Entstehungsvorgang verbraucht wurde. Der Legende nach kostete das Schmieden einer einzelnen Gilwe wenigstens „eine Halle voll Gold“. Daher waren die Margathankhum-Schmiede stets auf die Unterstützung einer ganzen Grube, das heißt vieler hundert, wenn nicht tausender Gidwargim angewiesen. Mancher Khuradum (dt. „Herr der Grube“) musste seinen ganzen Reichtum für nur eine einzige Gilwe opfern; und das Gold schmolz in den Werkstätten der Wahren Meister schneller, als es die Gidwargim aus den Adern der Berge zu lösen vermochten.

Die Hinwendung

Aber das eigentliche Geheimnis der Gilwenherstellung lag nicht im Verwenden von Unmengen an Gold. Es bestand vielmehr im Erwecken der Kräfte einer jeden Gilwe. Hierzu musste jeder Gilwe eine Eigenheit hinzugegeben werden. Die Gidwargim nannten dies das Geben der Hinwendung. Erst die jeweilige Hinwendung machte aus dem an sich unschätzbar kostbaren Kristall ein Werkzeug von Macht.

Keine zwei Gilwen erhielten dieselbe Hinwendung; eine jede war einzigartig. Und alle waren in besonderer Weise gegen einen Missbrauch gesichert. Denn um die Kraft einer Gilwe zu entfalten, bedurfte es eines für jede Gilwe unterschiedlichen Gesangs. Deshalb wurden die Gilwenträger auch Galim genannt (dt. „Sänger“). Erst wenn der Gilwenträger seinen Gesang ertönen ließ, erwachte die Gilwe zu ihrem geheimnisvollen Leben – und war in der Lage, die Absichten des Trägers zu erfassen und zu erfüllen.

Ein jeder Galim wählte einen Nachfolger aus, dem er – und nur diesem – die Kenntnis des Gesangs als kostbares Erbe vermachte. Geriet der Gesang in Vergessenheit, so war auch die Gilwe nicht länger von Nutzen, von ihrer reinen Kostbarkeit einmal abgesehen.

Nur eine Gilwe ohne Hinwendung hat es gegeben, und infolgedessen wurde sie Gluda genannt, das ist „die Reine“. Mit ihrem Schicksal war auch das Schicksal aller Völker Kringerdes verbunden, im Guten wie im Schlechten.

Die dunklen Gilwen

Lukather dem Grausamen gelang es, Fárin Goldhand das Geheimnis der Margathankhumschmiedekunst zu entreißen. Aber er entartete die Kunst und erschuf nach Fárins Tod die Schwarzen Tränen, auch Dunbluód (dt. „zweierlei Lockung“) oder die Dunklen Gilwen genannt. Diese waren nicht länger Werkzeuge, sondern Waffen und brachten unsägliches Leid über die freien Völker.

Gilwen – noch heute

In heutiger Zeit lassen nur noch grotesk verzerrte Abbilder die einstige Gefährlichkeit der Gilwen erahnen. Doch wenn wir danach Ausschau halten, so finden wir sie immer noch mühelos wieder, ohne uns allerdings viel dabei zu denken: etwa in der Gestalt von mittelalterlichen Reichsäpfeln, als faszinierende Schneekugeln in Kinderzimmern und als unheimlich-bedrohlich anmutende Kristallkugeln, mit denen uns selbsternannte Seher auf Jahrmärkten angeblich die Zukunft deuten. Und wer genauer hinschaut, ist überrascht, wie viele Künstler seit Anbeginn unserer Geschichtsschreibung in ihren Bildern faustgroße und manchmal eigentümlich schimmernde Kugeln versteckt haben.

Selbst nach so unfassbar langer Zeit erinnern wir uns immer noch vage der Macht, die einst von jeder Gilwe ausging! Wann immer wir heute einer Kristallkugel begegnen, können wir uns einer gewissen Faszination nicht entziehen, ja wir fühlen uns von ihr in gewisser Weise angezogen, ohne zu verstehen, warum. Wir spüren womöglich einen leisen Schauer und können uns manchmal sogar eines sanften Schauders nicht erwehren. Die Erklärung hierfür liegt in unserer fernsten Vergangenheit – der Gilwenzeit – begründet. Noch immer ist ein Hauch von Wissen über die Gilwen in unserem Unbewussten vorhanden – denn fast, aber nicht gänzlich vergessen ist das Unheil, das seinerzeit mit ihnen über die Menschen und ganz Kringerde hereinbrach.